Psychotraumatologie aus erster Hand

Prof. Dr. med. Günter H. Seidler

Prof. Dr. Günter H. Seidler, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische  Medizin und Psychotherapie, Lehranalytiker, Gruppenlehranalytiker, Balintgruppenleiter, Teamsupervisor und Organisationsberater, EMDR-Supervisor und Psychotraumatologe (Spezielle Psychotraumatherapie - DeGPT). 

Nach Jahrzehnten klinischer Arbeit und Forschung an den Universitäten Göttingen und Heidelberg bin ich jetzt freiberuflich als Autor, Coach, Supervisor, Selbsterfahrungsleiter, Berater und Gutachter tätig. Meinen beruflichen Schwerpunkt der letzten Jahrzehnte bildet die Psychotraumatologie, das ist die Wissenschaft von der Entstehung und Behandlung seelischer Verletzungen. Dieses noch immer junge Fach habe ich in Deutschland mit aufgebaut und mitgestaltet.

Publikatorische Niederschläge meines Engagements in diesem Feld sind:

als Autor: „Psychotraumatologie. Das Lehrbuch“ (Kohlhammer, Stuttgart);

als Gründer und Leitender Herausgeber: „Handbuch der Psychotraumatologie“ (Klett-Cotta, Stuttgart, bis zur dritten Auflage 2019) und die Zeitschrift „Trauma und Gewalt. Forschung und Praxisfelder“ (Klett-Cotta, Stuttgart, 2007-2019). 

Was ist mir als Psychotraumatologe wichtig?  In erster Linie geht es mir um den einzelnen Menschen. Das ist fast selbstverständlich. Der Blick auf das „Gesamt“ muss aber weitergehen, denn hinter der individuell erlebten und ausgeübten Gewalt stehen strukturelle Gewaltverhältnisse, die gern und rasch übersehen werden. Deshalb bemühe ich mich durchgängig, das Individuum vor seinem gesellschaftlichen Hintergrund zu sehen und zu verstehen. Erst dann kann ihm auch nachhaltig geholfen werden.

Von meinen praktischen Erfahrungen seien einige stichwortartig aufgezählt:

  • Nachsorge für die Opfer einer Reihe von Großschadensereignissen im Auftrage verschiedener Ministerien und Organisationen;
  • Rückholung und Betreuung von Entführungsopfern in der sogenannten Dritten Welt, überwiegend von Menschen, die für Industrieunternehmen tätig waren;
  • Forschungsprojekte zu den Folgen erlittener Gewalt und zu den Wirkungen verschiedener Trauma-Therapieverfahren.
  • Diese Forschung bezog sich vor allem auf Vergewaltigungsopfer und Opfer individueller krimineller Gewalt, teilweise auch auf
  • Missbrauchsopfer und Überlebende staatlicher Gewalt in der DDR.

Großen Wert habe ich darauf gelegt, dass ich im gleichen Zeitraum klinisch und wissenschaftlich durchgehend auch mit Themen der herkömmlichen Psychosomatik und Psychotherapie befasst war. Ein „scheinprofessionelles“ Spezialistentum wollte ich immer vermeiden. Auf mein Verständnis für die hier relevanten Krankheitsbilder und psychotherapeutischen Methoden hat sich dieses Nebeneinander ausgesprochen bereichernd ausgewirkt.

Rückblickend galt und gilt mein zentrales wissenschaftliches und klinisches Interesse dem Verständnis der Lebens- und Erlebenssituation von Menschen mit extremen Leiderfahrungen. Bearbeitete Themenfelder reichten von Studien zur Situation von Menschen mit Spina bifida und Hydrocephalus, später von Multiple-Sklerose-Kranken und Querschnittsgelähmten, Schädel-Hirn-Traumatisierten und Psychose-Kranken bis hin zu seelisch Traumatisierten nach Gewalterfahrungen.

Folge dieser fachlichen Entwicklung, die natürlich immer auch eine persönliche ist, war das Entstehen einer zunehmend kritischen Haltung gegenüber der heute etablierten Psychosozialen Medizin. Diese „Medizin“ beschäftigt sich mit dem, was sie als „Störungsbilder“ meint definieren zu können, nicht jedoch mit menschlichem Leid (und noch weniger mit der Möglichkeit zu menschlichem Glück). Menschliches Leid ist weder in ICD- noch in DSM-Nummern kodifizier- oder anders operationalisierbar. Man kann es halt nicht (er-)messen.  Wer es aber messen und zählen will, gerät in Gefahr, eher wenig von ge- und erlebter Lebendigkeit und auch wenig von erleidbarem und erlittenem Leid zu verstehen.

Jeder, der meint etwas gut erfasst zu haben, will das auch mitteilen. Das ist wohl das Grundmotiv zur Weitergabe wissenschaftlicher und praktischer Erkenntnisse. So habe ich im Laufe der Jahre eine Unzahl von Vorträgen gehalten, Aus-, Weiter- und Fortbildungen durchgeführt und schriftliche Arbeiten verfaßt. Diese erschienen in Fachzeitschriften oder als Buchbeiträge. Eine Reihe von Bücher habe ich als Alleinautor verfaßt. Auch habe ich zahlreiche Tagungen organisiert und mitgestaltet sowie Workshops und Panels. Auch wurde von mir und meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine große Anzahl Gutachten für sehr unterschiedliche Auftraggeber erstattet.

Die Presse berichtet oft über meine Aktivitäten. Die einschlägigen Suchmaschinen lassen manches finden. Mit zwei Ehrungen wurde meine wissenschaftliche Tätigkeit bislang  ausgezeichnet. Von 2002 bis zum Ende meiner Tätigkeit im Öffentlichen Dienst leitete ich die Sektion Psychotraumatologie am Zentrum für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Heidelberg. Diese Sektion besaß eine große Traumaambulanz und war eingerichtet worden auf dem Hintergrund umfangreicher Drittmitteleinwerbungen. Eine Spezialisierung entwickelte sich bezüglich von Großschadensereignissen und Akut-Psychotraumatologie. Neben der fachlichen Zusammenarbeit mit psychoanalytischen und psychotherapeutischen Instituten und Einrichtungen in anderen Universitäten bestand auch regelhaft eine praktische Kooperation mit Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz.

 Seit meinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst biete ich meine Leistungen freiberuflich an.